Methodik
Die Methodik: Wozu ein Scenario-Building?
Bei der Vorstellung des neuen EU-Paktes für Migration und Asyl im September 2020 betonte Kommissarin Ylva Johansson, dass die EU in Zukunft vorausschauend statt reaktiv agieren und sich dazu mehr prognostischer Methoden bedienen solle (EU KOM, 2020). Immer mehr politische Akteur:innen und Wissenschaftler:innen versuchen anhand von Frühwarnsystemen, mittels Prognosen und Szenarien Migrationsbewegungen prospektiv wahrzunehmen. Angesichts erheblicher Unterschiede schon bei den Voraussetzungen prospektiv angelegter Studien sowie angesichts der vielfältigen Variablen, die für die Entwicklung von Wanderungsbewegungen eine Rolle spielen, sind Vorhersagen gerade in diesem Politikfeld höchst umstritten. Insbesondere in Krisensituationen, die zusätzlich durch eine mangelnde Datenlage den Rückgriff auf klare Indikatoren nicht zulassen, nutzt die Wissenschaft oft das Instrument des Scenario-Buildings (SVR, 2019: 35).
Mithilfe von Szenarien sollen komplexe Situationen entschlüsselt und Strategien entwickelt werden, die sowohl die Zukunft beeinflussen können als auch den besonderen Herausforderungen und konstanten Veränderungen im analysierten Feld gerecht werden (Peterson et al., 2003: 360). So werden denkbare, realistische und unterschiedliche Bilder der Zukunft entworfen. Szenarien unterscheiden sich von Prognosen, Vorhersagen und Visionen in ihrer Vielfalt und in der Möglichkeit unkontrollierbare Faktoren und Unsicherheiten zu berücksichtigen (Peterson et al., 2003: 358; Veit, 2018: 11). Außerdem erhebt die Methode nicht den Anspruch, die Wirklichkeit abzubilden. Vielmehr prüft sie die Frage: „Was wäre, wenn…?“.
Insbesondere die in unserem Scenario-Building angewandte Shell-Methode zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Auseinandersetzung mir verschiedenen subjektiven Ansichten und Realitäten fordert und sich „nicht nur auf unpersönliche wirtschaftliche, politische und soziale Kräfte“ konzentriert (Mietzner & Regner, 2005; Shell 2013). Um zu den Szenarien zu gelangen, ist ein intensiver, partizipativer und interaktiver Prozess vonnöten, der ohne Hierarchien und unter Chatham House Regeln stattfindet, sodass Informationen zwar genutzt, aber keiner spezifischen Person zugeordnet werden dürfen (Veit, 2018: 13). Dieser intuitive, kommunikative und kreative Prozess ermöglicht, die Unsicherheiten und den dynamischen Wandel der Zukunft zu berücksichtigen sowie Herausforderungen und Möglichkeiten herauszukristallisieren.
Ein Scenario-Building kann sowohl normativ als auch explorativ gestaltet werden. Während ein normatives Scenario-Building bereits eine Zielsetzung beinhaltet und erforscht, unter welchen Bedingungen und Entscheidungen dieses Ziel erreicht werden könnte, strebt das von uns durchgeführte explorative Scenario-Building an, mehrere mögliche Bilder der Zukunft zu entwerfen, die jeweils verschiedene Handlungsempfehlungen mit sich bringen (Veit, 2018: 15). Hier wurden verschiedene Szenarien gebildet, um denkbare Trends zu verstehen und anschließend zu beeinflussen (Kahane, 2012). Kahane bekräftigt, dass explorative Szenarien einen transformativen Aspekt haben, da vorausgesetzt wird, dass die jeweiligen Bilder der Zukunft durch Entscheidungen der Gegenwart maßgeblich beeinflusst werden. Mithilfe konstruktiven Vorausdenkens und unter Einbezug vielfältiger Perspektiven lässt sich die Zukunft verändern. Statt einer Anpassung erfolgt eine strategische Planung (ebd.).
Für den Scenario-Building-Prozess unserer Studie konnten wir mit dem Politikwissenschaftler Dr. Winfried Veit einen erfahrenen Experten gewinnen. Die ausgewählten Expert:innen hatten einen gemeinsamen Hintergrund in der Migrations- und Integrationsforschung, entstammten aber unterschiedlichen Disziplinen zwischen Sozial-/Politikwissenschaft, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft. Sie wurden unterstützt vom Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration (zuvor: Team Migration am Zentralinstitut für Regionenforschung) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (vgl. hier). Aufgrund der aktuellen Pandemie konnte das Scenario-Building in diesem Fall nicht als Präsenzveranstaltung stattfinden, sondern fand digital über Umfragen sowie ein zweitägiges Zoom-Meeting statt.
Orientierung
Zunächst wurde die Ausgangslage definiert und die Fragestellung fokussiert. In unserem explorativen Scenario-Building lautete die Fragestellung: „Wie stellt sich Integration vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie im Jahr 2030 dar?“ Trends anhand der oben genannten Fragestellung wurden im Rahmen eines Online-Workshops und anhand einer Online-Umfrage von den Expert:innen genauer identifiziert. Diese identifizierten und gewichteten die Einflussfaktoren (sogenannte „Treibende Kräfte“, welche die Zukunft maßgeblich beeinflussen werden) und intervenierende Faktoren (sogenannte „Kritische Unsicherheiten“, die zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich sind). Letztere können soziale, technologische, wirtschaftliche, ökologische und politische Bereiche abdecken (Moniz, 2005: 3). In der Orientierungsphase wurden folgende sechs Treibende Kräfte identifiziert und nach Gewichtung in die folgende Reihung gebracht:
- Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftspolitik (u.a. Entwicklung des Arbeitsmarkts, Ressourcenverteilung),
- Internationale, regionale und nationale Steuerungsmechanismen (u.a. Unilateralismus vs. Multilateralismus, Populismus, Ausrichtung der Migrationspolitik: Abschottung oder Öffnung),
- Gesellschaftliches Klima (u.a. Narrative der Unsicherheit, Ausgrenzung),
- Fluchtursachen (u.a. durch Kriege und Konflikte)
- Medizinische Versorgung (u.a. Verfügbarkeit von Impfstoffen, Schnelltests und Behandlung)
- Digitalisierung und Zugang zu digitalen Medien
- Demographischer Wandel
Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden (53%) identifizierten zusätzlich die Möglichkeit einer globalen Wirtschaftskrise als Kritische Unsicherheit, die zwar als unwahrscheinlich, aber nicht als unmöglich bezeichnet wurde. Außerdem bewerteten die Teilnehmenden den finanziellen oder politischen Kollaps der EU und/oder Deutschlands als eine weitere zentrale Kritische Unsicherheit. Eine Mutation des Virus‘ oder weitere Pandemien sowie eine schnellere Entwicklung des Klimawandels und die darauffolgende Ressourcenknappheit wurden des Weiteren als zentrale „Kritische Unsicherheiten“ identifiziert.
Konstruktion
Anhand dieser miteinander abgestimmten Schlüsselfaktoren wurden im nächsten Schritt, der sog. Konstruktion, subjektive Trends gesammelt, die im Austausch mit anderen Teilnehmenden während eines zweitägigen Workshops zu Szenarien verschmolzen (Moniz, 2005: 2). Widler (2019) folgend sollten möglichst nicht mehr als fünf Szenarien entwickelt werden, um die Szenarien plausibel und komplex auszugestalten. Schon während der Umfrage zeichneten sich drei Tendenzen ab, die während des Workshops zu drei Szenarien entwickelt wurden.
Affirmation
Anhand der Scenario-Building-Methode können die teilnehmenden Expert:innen von komplexen Sachverhalten zu kohärenten und plausiblen Voraussichten gelangen, welche die Zukunft zwar nicht genau abbilden, wohl aber herausdestillieren, welche Entscheidungen langfristige Entwicklungen beeinflussen können (Daum, 2001; Mietzner & Reger, 2005). Im Unterschied zu normativen Szenarien sollen explorative Szenarien, wie in unserem Building, nicht als positiv oder negativ bewertet werden, da jedes Szenario mögliche Zukunftsaussichten entwirft. Zentral ist jedoch, dass alle Szenarien von allen Teilnehmenden des explorativen Prozesseses als plausibel anerkannt werden. Dieser abschließende, dritte Schritt wird als Affirmation bezeichnet (Veit, 2016) und wurde im Rahmen des Online-Workshops durchgeführt.
Die Exklusionsgesellschaft, die utilitaristische Gesellschaft und die Teilhabegesellschaft – das sind die drei für plausibel befundenen Vorstellungen unseres Scenario-Buildings.
Daum, J. (2001). How scenario planning can significantly reduce strategic risks and boost value in the innovation chain. The New Economy Analyst Report.
EU KOM. (2020). New Pact on Migration and Asylum. Abgerufen 20.10.2020, von https://ec.europa.eu/commission/commissioners/2019-2024/johansson/announcements/new-pact-migration-and-asylum_en
Kahane, A. (2012). Transformative Scenario Planning, San Francisco, California: Berrett-Koehler Publishers.
Mietzner, D., & Reger, G. (2005). Advantages and Disadvantages of Scenario Approaches for Strategic Foresight. International Journal of Technology Intelligence and Planning, 1(2), 220-239. Abgerufen 20.10.2020, von https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1736110
Moniz, A. (2005). Scenario-building methods as a tool for policy analysis. Paper presented at the ESF International Workshop on Innovative comparative methods for policy analysis, Erfurt.
Peterson, G., Cumming, G., & Carpenter, S. (2003). Scenario Planning: A Tool for Conservation in an Uncertain World. Conservation Biology 17(2), 358-366. Abgerufen 20.10.2020, von https://training.fws.gov/courses/alc/alc3194/resources/publications/scenario-planning/Peterson_et_al_2003.pdf
Schwartz, P. (1991). The Art of the Long View: Planning for the Future in an Uncertain World. New York: Doubleday.
Shell International BV. (2013). New Lens Scenarios: A shift in Perspective for a World in Transition. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.shell.com/content/dam/royaldutchshell/documents/corporate/scenarios-newdoc.pdf
SVR. (2019). Bewegte Zeiten: Rückblick auf die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2019/05/SVR_Jahresgutachten_2019.pdf
Veit, W. (2016). Scenario Planning: Methodological Outline.
— (2018). Scenario Building as an Instrument for Strategic Foresight. In M. Böckenforde & E. Braune (Eds.), Prospective Migration Policy – Scenario Building on Relations Between West Africa and Europe Bilingual Edition: English-French (Global Dialogues 15). Abgerufen 20.10.2020, von https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00044883/Bockenfoerde_Braune_Prospective_Migration_Policy_GD_15.pdf
Widler, S. (2019). Factsheet Scenario Building. SSWM. Abgerufen 20.10.2020, von https://sswm.info/planning-and-programming/decision-making/situation-and-problem-analysis/scenario-building