Die utilitaristische Gesellschaft
Die Situation im Jahr 2030:
Im Jahr 2030 kommen aufgrund eines inzwischen eingeführten selektiven und nach Qualifikationen gestaffelten Modells überwiegend qualifizierte, gesunde und junge Migrant:innen nach Deutschland. Außerdem werden auch unter den über humanitäre Kanäle angekommenen Personen wirtschaftlich „nützliche“, qualifizierte Migrant:innen in Form eines „Cherry-Pickings“ ausgewählt. Mobilitäts- und Ausbildungspartnerschaften werden von den Herkunftsstaaten nur zeitlich befristet ausverhandelt, um Brain-Drain zu vermeiden. Auch die Aufenthalte für Saisonarbeiter:innen werden befristet, etwa in der Fleischindustrie oder der Landwirtschaft sowie in Bereichen, welche bereits während der Pandemie von Grenzschließungen und Mobilitätsbeschränkungen ausgenommen waren (bspw. Tönnies, Spargelernte). Projektgebundene Einwanderung von zwei bis drei Jahren ist üblich geworden. Um Anreize für die Wiederausreise zu schaffen, werden Löhne teils erst am Ende der jeweiligen Arbeitsaufenthalte ausbezahlt und Tracking-Tools ausgebaut. Arbeitsmigration zählt zwar nach wie vor nicht zu den legislativen Kompetenzen der EU, aber die Europäische Union fördert Anreize für Aufenthalte von ausgewählten Arbeiter:innen. Wer sich ohne legalen Aufenthaltstitel auf dem Territorium eines EU-Mitgliedstaats aufhält, hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Damit segmentiert sich der Arbeitsmarkt für Migrant:innen zusehends in kurzfristige (bspw. Saisonarbeit, Pflege, Bau) und langfristige Tätigkeiten (bspw. medizinische und andere Fachkräfte, Hochqualifizierte im IT-Bereich). Das Asylrecht existiert sowohl in Deutschland als auch in der EU noch auf dem Papier, ist aber faktisch irrelevant. Generell ist die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Regelbrüchen und Irregularität weiter gesunken; Kontrolle, Regulierung und Selektivität sind die primären Ziele nationaler und europäischer Migrationspolitik.
Entsprechend wird Integration als überwiegend zeitlich befristet konzipiert und konzentriert sich inhaltlich auf die Sicherstellung regelkonformen Verhaltens. Integrationsmaßnahmen fokussieren sich auf die Notwendigkeiten berufsspezifischer Hilfen. Lediglich Hochqualifizierten werden längerfristige Integrationsangebote gemacht, die bereits im Herkunftsland ansetzen („Präintegrations-Kurse“). Aufgrund der Entwicklung digitaler Übersetzungs- und Dolmetschertools ist Sprachintegration nicht mehr im gleichen Ausmaß notwendig. Als Lehre aus den Folgen von COVID-19 werden dezentrale Unterbringung und ein besserer Arbeitsschutz eingeführt.
Wie ist es dazu gekommen?
Diese Entwicklung folgte dem Bedarf der deutschen Wirtschaft an Arbeitskräften: Aufgrund der demographischen Entwicklung blieb der Bedarf sowohl im Niedriglohnbereich als auch im Bereich der (Hoch-)Qualifizierten nach der COVID-19-Pandemie weiterhin ungebrochen.
Zugleich schritt die Versicherheitlichung der EU-Außengrenzen voran: Der Grenzschutz wurde in Kooperation mit Ländern wie der Türkei, der Westbalkanstaaten und der Staaten Nordafrikas weiter verstärkt. Das nachlassende Engagement in Entwicklungskooperationen und Ungleichheiten bei der Versorgung mit Impfstoffen führten zu neuen Fluchtursachen. Nichtsdestotrotz hatte die Pandemie westlichen Staaten gezeigt, dass gewisse (unerwünschte) Formen der Migration von heute auf morgen auf nahe Null heruntergefahren bzw. kontrolliert werden können (wenngleich auch eine gewisse Dunkelziffer Undokumentierter weiterbestand). Beispielsweise wurden zusehends auch Gesundheitschecks an den Grenzen eingeführt. Transportwege passten sich dem Bedarf in Europa an.
Die Hauptherkunftsländer von Migrant:innen hatten kein Interesse daran, dass Wanderungsbewegungen nach Europa zu einem Brain-Drain führten und schlossen daher Mobilitätspartnerschaften auf Zeit ab, ähnlich den Gastarbeiterverträgen der Vergangenheit. Diese entsprachen auch dem europäischen Bedarf. Die europäischen Regierungen agierten außerdem in einer Art vorauseilenden Gehorsams auf einen steigenden Rassismus in ihren Gesellschaften und schlossen nur noch mit ausgewählten Ländern Mobilitätspartnerschaften ab. Zugleich stabilisierten sich Länder wie Libyen und Syrien, was sich auch auf den Migrationsdruck auswirkte. Nachdem eine Vielzahl an Impfstoffen gefunden und verteilt wurden, ließen bspw. auch die Golfstaaten wieder mehr Migration zu und entwickelten sich weiter zu alternativen Migrations-„Magneten“ in der Region um Europa. Zuletzt wurden im Zuge des Neuen Pakts für Migration und Asyl der EU auch die Rückführungen intensiviert, indem Herkunftsländer für ihre Kooperation in der Rücknahme ihrer Staatsangehörigen (finanziell) massiv unterstützt wurden.
Somit wirkte die COVID-19-Pandemie als Katalysator für Entwicklungen, die sich bereits zuvor abgezeichnet hatten: Die Kriterien für die Selektion von Zuwanderung wurden schärfer. Sie orientierten sich an der „Systemrelevanz“ und der Gesundheit der Einwanderungswilligen sowie an regelkonformem Verhalten der Zuwander:innen. Der demographische Wandel schritt voran, obwohl die Pandemie vor allem für viele Opfer unter der älteren Bevölkerung sorgte. Des Weiteren bedeutete die Pandemie hohe Ausgaben und Schulden für die europäischen Staatshaushalte, welche es im Nachhinein durch Mehreinnahmen wieder abzubezahlen galt. All dies verlieh dem utilitaristischen System Aufschwung.