Die Teilhabegesellschaft
Die Situation im Jahr 2030:
Im Jahr 2030 ist Integration in Deutschland teilhabeorientiert. Es herrscht eine gesamtgesellschaftliche Perspektive auf Integration, die sich weniger an Zielgruppen als vielmehr an konkreten sozialen Bedarfen der Einwohner:innen orientiert. Teilhabe wird zudem nicht mehr an ökonomischem Nutzen, sondern vor allem an sozialer Partizipation gemessen. Integration ist kein zentraler politischer Begriff mehr, sondern vielmehr ein aktiver Gestaltungsauftrag und eine Daueraufgabe auf allen Ebenen, innerhalb und außerhalb der Politik (bspw. in Zivilgesellschaft und Forschung).
Die COVID-19-Pandemie erhöhte das Bewusstsein dafür, dass Migrant:innen in vielen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen „systemrelevant“ sind. Obwohl die Migrationspolitik weiterhin selektiv funktioniert, basiert sie nicht auf ökonomischen Überlegungen, sondern vielmehr auf gesellschaftlichen Bedarfen. Dazu gehört auch, dass nun die Familienzusammenführung für alle Personen, die bereits in Deutschland sind, ermöglicht wird. Außerdem wurden Kapazitäten für weitere legale Zugangswege ausgebaut, beispielsweise Resettlement, private Sponsorenprogramme und neue Wege für Fachkräfte über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hinaus. Eine progressive Mehrheit auf nationaler Ebene bestimmt die Politik, die Polarisierung der Gesellschaft besteht jedoch weiterhin. Einzelne Kommunen und Bundesländer werden von rechten, migrations- und integrationsskeptischen Mehrheiten bestimmt, die die Teilnahme an legalen Zugangswegen verweigern.
Das Thema Asyl ist in den Hintergrund geraten, denn Neuankünfte in Deutschland bleiben – wie auch zu Zeiten der Pandemie – weiterhin auf niedrigem Niveau: Zwar besteht das Recht auf Asyl weiterhin, aber neue Technologien sowie ein erhöhter bürokratischer Aufwand bei der Überprüfung neuer Immunitäts- und Gesundheitsauflagen erschweren Migration, insbesondere irreguläre Migration. Außerdem herrscht in Europa eine Dreiteilung von progressiv regierten Ländern (Deutschland und Nordeuropa), rechtspopulistisch regierten Ländern (Ostmitteleuropa und Südosteuropa) und den ideologisch-politisch zwischen den beiden Polen angesiedelten südeuropäischen Staaten. Diese hat zur Folge, dass es keinen gemeinsamen Nenner mehr für eine EU-Asylpolitik gibt. Der bestehende Mangel an Solidarität innerhalb der EU bewirkt daher, dass Neuankünfte über die meisten Mitgliedstaaten verhindert werden. Allerdings sorgen einzelne Kommunen und auch einzelne Mitgliedstaaten dafür, dass verschiedene, jedoch vereinzelte, legale Zugangswege und Aufnahmeprogramme ausgebaut werden.
Wie ist es dazu gekommen?
Während der Pandemie haben Stadtvertreter:innen und Behörden ihre Kommunikationsarbeit verstärkt, um Migrant:innen und Geflüchtete zu erreichen. Insbesondere die Kommunen lernten, dass die Investition von mehr Ressourcen in Behörden eine Vorbedingung für eine teilhabeorientierte Gesellschaft darstellt. Dabei wurde nicht nur in Personal und fachliche Schulungen investiert, sondern auch in Mehrsprachigkeit, um Fehlinformation zu bekämpfen und Integrationsprozesse für Migrant:innen und Geflüchtete zu erleichtern. Die Rolle von Städten als Brückenbauer zwischen Politik und Gesellschaft wurde im Rahmen der Pandemie verstärkt. Immer mehr Kommunen nutzten die Gelegenheit Parallelstrukturen aufzulösen und Politik nicht anhand von Zielgruppen, sondern von Bedarfen zu gestalten. Sie waren es, die Einbürgerungsinitiativen und Regularisierungskampagnen zum Thema machten. Zeitgleich wurden kritische Diskurse über Rassismus und Diskriminierung gefördert und neu gewonnene Erkenntnisse zu prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrant:innen verbreitet. Außerdem vertiefte sich das Verständnis dafür, dass „ständige“ Gesetzgebung, wie auch in Zeiten der Pandemie, Auslöser für Fehlinformation und auch Frustration sein kann. So kam es zu einem gesellschaftlichen Narrativwechsel, der das lokale Zusammenleben fokussierte. Zusätzlich entspannte der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland das gesellschaftliche Klima und ermöglichte großzügige Investitionen im Bildungsbereich sowie weitere Ressourcen für die Landesebene und kommunale Ebene zur Unterstützung von bottom-up-Maßnahmen für die soziale Teilhabe.
Diese Maßnahmen führten zudem dazu, dass sich auf nationaler Ebene eine progressive Mehrheit durchsetzte, die u.a. das kommunale Wahlrecht unabhängig von Herkunft und Status einführte. Dieses Wahlrecht bestärkte, dass sowohl aus politischen Motiven, aber auch wegen des demographischen Wandels mehr in den Integrationsbereich im Sinne sozialer Teilhabe investiert wurde. Integration wurde daher immer weniger als eigener Begriff oder Maßnahmenbündel, sondern vielmehr gesamtgesellschaftlich verstanden und dem neu gegründeten Gesellschaftsministerium zugeordnet.
Somit wirkte die Covid-19-Pandemie als Katalysator für Entwicklungen zu einer teilhabeorientierten Gesellschaft.