Kurzfristige Auswirkungen auf Mobilität, Migration und Flucht
Mobilität, Migration und Flucht: Erste Tendenzaussagen
Grenzschließungen in fast allen Staaten der Welt haben sowohl Migrant:innen als auch Geflüchteten den Zugang zu anderen Ländern erschwert. In einigen Staaten galten die Grenzschließungen auch für die eigenen Staatsbürger:innen und Aufenthaltsberechtigte (Benton, 2020). So führte die Pandemie weltweit dazu, dass Personen „strandeten“ und gegebenenfalls der Obdachlosigkeit ausgesetzt waren (UN News, 2020). Die Maßnahmen hatten zur Folge, dass viele Menschen auf der Wanderung ohne Information und ohne Gesundheitsversorgung verblieben und oft auch mit erhöhter Stigmatisierung und Ungleichbehandlung konfrontiert waren (ebd.). Etlichen Schutzsuchenden wurde der Zugang zu Asyl verwehrt; etliche fanden sich in einer Realität von „Pull Backs“ und „Push Backs“ oder in „Floating Detention“ wieder (Ghezelbash, 2020).
Für die Europäische Union zeigten die jüngsten AzR-Daten (Statistisches Bundesamt, 2020a), dass viele Schutzsuchende nicht den Zugang zu EU-Mitgliedstaaten erreichten, obwohl sie rechtlich von Einreisebeschränkungen ausgenommen waren. Die Europäische Kommission (2021) konstatierte im Januar 2021, in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 seien lediglich gut 390.000 Anträge und damit 33% weniger als im Vorjahr auf internationalen Schutz in den EU-Staaten sowie in Norwegen und der Schweiz gestellt worden. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO, 2020) führte im Oktober 2020 diesen Rückgang auf die Einschränkungen im Zuge der Coronavirus-Pandemie zurück. Eine Prognose sei aufgrund der unsicheren Gesundheitslage jedoch „extrem schwierig“ (ebd.).
In der deutschen Wanderungsstatistik zeigte sich für das erste Halbjahr 2020 zum ersten Mal seit zehn Jahren ein Rückgang der Zuwanderungszahlen (Statistisches Bundesamt, 2020b). Mit einem deutlichen, Coronavirus-bedingten „Knick“ im März lag die Zahl der Zuzüge im Zeitraum März bis Juni 2020 um 208.000 beziehungsweise 42% unterhalb des Wertes des Vorjahrs. Während ausländische Studierende aus Nicht-EU-Ländern nur bedingt nach Deutschland einreisen durften, wurden Restriktionen insbesondere für saisonale Arbeitsmigrant:innen vermieden oder nach kurzer Zeit wieder aufgehoben (Fokken, 2020). Während des Lockdowns erlaubte die Bundesregierung 40.000 saisonalen Arbeitskräften jeweils im April und Mai 2020 die Einreise nach Deutschland. Trotz Anwerbung von Inländer:innen, inkl. Geflüchteten, war die Anwerbung zusätzlicher Arbeitskräfte notwendig (Andriescu, 2020).
Grenzschließungen führen zu Unsicherheiten von Personen, beispielsweise bei ausstehenden Familienzusammenführungen, und zu prekären Lebensbedingungen bei gestrandeten Migrant:innen und Geflüchteten, wie beispielsweise bei Spätaussiedler:innen und Arbeitsmigrant:innen, die im Rahmen der Lockdowns nicht ausreisen konnten. Auch das Resettlement- Programm und dessen Aussetzung in Deutschland (und anderen Staaten) führten dazu, dass Menschen, die bereits in den Erstaufnahmestaaten ein UNHCR-Interview zur Ausreise hatten, seit März 2020 in Unsicherheit und ohne Perspektive warten. Humanitäre Aufnahmeprogramme sollten schnell wieder aufgenommen und die nicht erfüllten Kontingente sollten auf das Jahr 2021 übertragen werden. Auch sollten bereits abgelaufene Visa in Folge der Einreisebeschränkungen im Frühjahr 2020 insbesondere für die Familienzusammenführung nicht erneut beantragt werden müssen (Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge, o.J.; Flüchtlingsrat Niedersachsen, 2020). In Zukunft braucht es eine Debatte darüber, wie Mobilität ‚sicher‘ und vor allem auch verlässlich gestaltet werden kann. Hier gibt es bereits vielfache Vorschläge wie die Berücksichtigung von Impfpässen bei der Einreise, biometrischen Gesundheitskarten, Immunitätsausweise, Schnelltests und sogenannten „Travel Bubbles“ oder medizinischen Kontrollen bzw. Versorgung an Grenzen, wobei der Zugang zu Asyl auch durch diesen erhöhten bürokratischen Aufwand nicht unberücksichtigt bleiben darf (MPI, 2020a).
Noch ist unklar, wie sich Mobilität, Arbeitsmigration und Flucht unter den Bedingungen medizinischer Entwicklung und gesetzlicher Vorgaben entlang der oben genannten Vorschläge künftig auswirken werden, welche Politiken der Anwerbung oder Eindämmung von Migration Deutschland und andere europäische Staaten auf mittlere Sicht einschlagen werden und wie sich wirtschaftliche Bedingungen auf die Arbeitsmärkte in Deutschland und Europa niederschlagen. Es ist jedoch bereits deutlich, dass die Pandemie auf jeden Fall kurzfristig zu einer (temporären, partiellen) Neugestaltung von Mobilität geführt hat. Diese betrifft Mobilität im Sinne von Tourismus, von jeder Art der Arbeits- und Bildungsmigration sowie auch die Aufnahme aus humanitären Gründen. Genauso wie die mittel- und langfristigen Konsequenzen für Mobilität und Migration noch offen sind, wirken sich diese auf die Zahl und die Art der zu Integrierenden und die Art von Integrationspolitik aus. Beide angenommenen Voraussetzungen sind maßgeblich für die künftige Gestaltung der Teilhabe in Deutschland (s. die von unserem Expert:innenteam entwickelten Szenarien.)
Andriescu, M. (2020). Under Lockdown Amid COVID-19 Pandemic, Europe Feels the Pinch from Slowed Intra-EU Labor Mobility. Migration Information Source. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.migrationpolicy.org/article/covid19-europe-feels-pinch-slowed-intra-eu-labor-mobility
Benton, M. (2020). The Rocky Road to a Mobile World after COVID-19. Migration Policy Institute. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.migrationpolicy.org/news/rocky-road-mobile-world-after-covid-19
EASO. (2020). Asylum applications remain 31% lower than in 2019. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.easo.europa.eu/news-events/asylum-applications-remain-31-lower-2019
EU KOM. (2021). Migration statistics update: the impact of COVID-19. Abgerufen 07.03.2021, von https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_21_232
Flüchtlingsrat Niedersachsen. (2020). Familiennachzug: Corona-Krise trifft getrennte Familien hart. Abgerufen 07.03.2021, von https://www.nds-fluerat.org/themen/familienzusammenfuehrung/familiennachzug-corona-krise-trifft-getrennte-familien-hart/
Fokken, S. (2020). Ausländische Studierende dürfen nur bedingt einreisen. Spiegel. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.spiegel.de/panorama/bildung/coronakrise-auslaendische-studierende-koennen-nur-eingeschraenkt-einreisen-a-4b918600-6d44-431e-80ca-205dc7bea91d
Ghezelbash, D. (2020). COVID-19 and the end of asylum. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.kaldorcentre.unsw.edu.au/publication/covid-19-and-end-asylum
MPI. (2020). Moving beyond the Pandemic – A Podcast. Abgerufen 01.02.2021, von https://www.migrationpolicy.org/about/moving-beyond-pandemic-podcast
Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge. o.J. Was passiert mit Anträgen auf Familienzusammenführung während der Corona Pandemie? Abgerufen 07.03.2021, von https://www.unternehmen-integrieren-fluechtlinge.de/faq/was-passiert-mit-dem-antrag-auf-familienzusammenfuehrung-waehrend-der-corona-pandemie/
Statistisches Bundesamt. (2020a). Migration und Integration: Schutzsuchende nach dem Ausländerzentralregister. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Methoden/Erlauterungen/schutzsuchende.html
Statistisches Bundesamt. (2020b). Starker Rückgang der registrierten Zu- und Fortzüge im 1. Halbjahr 2020 [Press release]. Abgerufen 20.10.2020, von https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/10/PD20_384_12411.html
UN News. (2020). From the field: COVID-19 restrictions leave migrant workers stranded. Abgerufen 06.03.2021, von https://news.un.org/en/story/2020/06/1066092