Infektionsrisiko und Impfbereitschaft
Infektionsrisiko und Impfbereitschaft von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und ihren Nachkommen
Die Debatte, vor allem angestoßen durch mutmaßliche Äußerungen des RKI-Leiters, Prof. Dr. Lothar H. Wieler, welche sich um vermeintlich hohe Infektionszahlen unter Menschen mit Migrationshintergrund dreht, hat öffentlich hohe Wellen geschlagen. In Deutschland werden keine Daten dazu erhoben, ob Personen mit Zuwanderungsgeschichte öfter an Corona erkranken und auch wird der Migrationshintergrund bei der Aufnahme von Patient:innen nicht erfasst (Mediendienst Integration, o.D.; Soldt et al., 2021). Aus den USA oder Großbritannien gibt es Statistiken, welche darauf hindeuten, dass ethnische Minderheiten häufiger und stärker an Covid-19 erkranken. In den meisten Fällen wird aber klar, dass nicht der ‚Migrationshintergrund‘, sondern die soziale Herkunft ausschlaggebend ist. Der Zusammenhang liegt an vielfältigen Faktoren, wie beispielsweise sozioökonomische Benachteiligung und Infektionsrisiko (Soldt et al., 2021). Eine Recherche des Kompetenznetz Public Health COVID-19 kam etwa zu dem Ergebnis:
„Nach derzeitigem Wissenstand ist davon auszugehen, dass sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen vergleichsweise häufiger mit dem Virus in Kontakt kommen und häufiger von einem schweren Erkrankungsverlauf betroffen sind.“ (Wahrendorf et al., 2020: 1)
Dies liegt etwa an unterschiedlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen und dementsprechend ungleichen Ansteckungsrisiken (ebd.). In sozial schwächeren Gegenden leben mehr Menschen auf beengten Raum. Gleichzeitig arbeiten viele von ihnen in schlecht bezahlten, aber systemrelevanten Berufen an vorderster Front, ohne die Möglichkeit zum Homeoffice und sind daher einer höheren Ansteckungsgefahr ausgesetzt (Betschka et al., 2021). Zudem bestehen Ungleichheiten in der Vulnerabilität, also etwa durch die soziale Benachteiligung bedingte Vorerkrankungen, welche das Risiko einer Infektion und eines schweren Verlaufs erhöhen. Des Weiteren kommen eine oft schwierigere Erreichbarkeit medizinischer Einrichtungen, geringe hausärztliche Versorgung oder seltenere Möglichkeiten des Testens hinzu (Wahrendorf et al., 2020; Betschka et al., 2021).
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind im Vergleich zur Gesamtgesellschaft häufiger sozial benachteiligt (SVR, 2019). So lag die Armutsgefährdungsquote 2019 bei der Bevölkerung mit ‚Migrationshintergrund‘ bei nahezu 30% und bei der Bevölkerung ohne ‚Migrationshintergrund‘ bei rund 10% (Statistisches Bundesamt, 2020). Es gibt also eine Schnittmenge zwischen sozioökonomischer Benachteiligung und ‚Migrationshintergrund‘ und dementsprechend einen Zusammenhang zu hohen Infektionszahlen unter Personen mit Zuwanderungsgeschichte und ihren Nachkommen. Statt aber den betroffenen Personen vorzuwerfen, sie würden sich fahrlässiger verhalten, sollten die Ungleichheiten anerkannt und entsprechend gegensteuert werden. Auch sollte die Kategorie ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ differenziert betrachtet werden, denn sie schließt eine sehr breite und diverse Gruppe von Personen mit ein (Ghelli, 2021).
In der Pandemie haben sich Ungleichheiten, so zeigt auch unsere Studie, noch verstärkt. Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit oder der Arbeitsplatzverlust, welchen sich viele sozial Benachteiligte, darunter auch Migrant:innen und Geflüchtete, ausgesetzt sehen, gehen mit einem erhöhten gesundheitlichen Risiko einher. Prekär Beschäftigte sehen sich zudem in Anbetracht der sozialen Folgen der Pandemie kurz- wie langfristig einem erhöhten Risiko für gesundheitliche Schäden gegenüber (Pförtner, 2020).
Die hohen Zahlen in sozial benachteiligten Stadtteilen deuten außerdem darauf hin, dass man den dort lebenden Personen ein Impfangebot machen sollte. Einzelne Stimmen, darunter Bayerns Innenminister Hermann, vermuten, dass Menschen mit ‚Migrationshintergrund‘ einer Corona-Impfung skeptisch gegenüberstehen (Süddeutsche Zeitung, 2021). Auch hier gilt es zu differenzieren, denn offizielle Zahlen zu Impfungen von Zugewanderten und ihren Nachkommen liegen nicht vor (Gollnow, 2021). Dennoch gilt es auch hier Zugangsbarrieren entgegenzuwirken: Viele Einladungen und die Anmeldung zum Impfen beispielsweise sind in deutscher Amtssprache verfasst (Betschka et al., 2021). Dementsprechend sind mehrsprachige, zielgruppengerechte und auch aufsuchende Informationsangebote sowie ein breiteres Test- und Impfangebot zentral (Gollnow, 2021). In betroffenen Stadtteilen eignen sich Impfmobile, sowie eine Impfberatung vor Ort. Zudem können bereits bestehenden Strukturen auf lokaler Ebene genutzt werden, etwa Vereine, Betriebe oder religiöse Gemeinden (Günther, 2021; Braun, 2021).
Die Stadt Köln hat Anfang Mai 2021 ein Pilotprojekt mit mobilen Impfteams gestartet, welche in sogenannten „Hot-Spots“, also Vierteln mit hohen Inzidenzen, Impfungen anbieten. Die dort lebenden Personen nahmen dieses Angebot vielfach wahr (Fassbender, 2021). Auch die Stadt Nürnberg hat mobile Impfteams eingerichtet, die alle Kund:innen der Tafeln sowie deren volljährige Familienangehörige in ebendiesen Einrichtungen impfen (Bayerischer Rundfunk, 2021). Mitte Mai 2021 hat zudem das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfahlen Sonderkontingente mit dem Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson – von dem nur eine Dosis nötig ist – für besonders betroffene Stadtteile in 15 Kreisen und kreisfreien Städten freigegeben (Landesportal NRW, 2021). Weitere Städte, darunter München, Düsseldorf und Bonn, haben zudem gezielt aufsuchende Impfangebote mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson für wohnungslose Menschen und Geflüchtete gemacht (Kel, 2021; Oneko, 2021; Amt 54 News, 2021).
Stand: 01.06.2021
Amt 54 News. (2021). Impfungen in Einrichtungen der Obdach- und Wohnungslosenhilfe gestartet. Abgerufen 21.04.2021, von https://www.duesseldorf.de/amt-fuer-migration-und-integration/aktuell/detail/newsdetail/impfungen-in-einrichtungen-der-obdach-und-wohnungslosenhilfe-gestartet-1.html
Bayerischer Rundfunk. (2021). Corona-Impfungen bei der Tafel. https://www.ardmediathek.de/video/rundschau/corona-impfungen-bei-der-tafel/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzRkYWI1NzM4LWNkYTktNGJkYS04OGMyLTc0MmQ4M2E3YzMzOQ/
Betschka, J. / Dernbach, A. / Ismar, G. / Schlegel, M. (2021). Spahn sieht „große Herausforderung“. Haben Menschen mit Migrationshintergrund eine stärkere Impfskepsis? Der Tagesspiegel. Abgerufen 04.05.2021, von https://www.tagesspiegel.de/politik/spahn-sieht-grosse-herausforderung-haben-menschen-mit-migrationshintergrund-eine-staerkere-impfskepsis/27137260.html
Braun, K. (2021). Warum lassen sich Menschen mit Migrationshintergrund seltener impfen? Mama Özdemir: Eine Impf-Bitte auf Türkisch. Merkur. Abgerufen 04.05.2021, von https://www.merkur.de/politik/eine-impf-bitte-auf-tuerkisch-zr-90478891.html
Fassbender, I. (2021). Köln: Großer Andrang bei Impfstart in sozialen Brennpunkten. Deutschlandfunk. Abgerufen 04.05.2021, von https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-koeln-grosser-andrang-bei-impfstart-in.1939.de.html?drn:news_id=1255140
Ghelli, F. (2021). Informationen zu Covid-19. “Einwanderer*innen wurden viel zu lange ignoriert“. Interview mit Mosjkan Ehrari, Leiterin der Informationsplattform „Handbook Germany“. Mediendienst Integration. Abgerufen 03.05.2021, von https://mediendienst-integration.de/artikel/einwandererinnen-wurden-viel-zu-lange-ignoriert.htmlhttps://mediendienst-integration.de/artikel/einwandererinnen-wurden-viel-zu-lange-ignoriert.html
Gollnow, S. (2021). Muss die Impfkampagne Menschen mit Migrationshintergrund besser ansprechen? Deutschlandfunk. Abgerufen 03.05.2021, von https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-muss-die-impfkampagne-menschen-mit.1939.de.html?drn%3Anews_id=1253156&fbclid=IwAR0Z-AvfIlUBULbeBrU3OEWFOqGvch2RbGaxuYXGCxMK-PvyNRcCJSaxfIo
Günther, R. (2021). Medizinsoziologe. Ansteckungsrisiko ist auch eine Frage der Wohnverhältnisse. Interview mit Nico Dragano. Deutschlandfunk Nova. Abgerufen 03.05.2021, von https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/soziale-ungleichheit-hohe-inzidenzwerte-in-aermeren-vierteln
Kel, E. (2021). „Je niederschwelliger das Angebot, desto höher wird die Impfrate sein“. Süddeutsche Zeitung. Abgerufen 21.05.2021, von https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-coronavirus-impfung-obdachlose-1.5293677
Landesportal NRW. (2021). Erlass regelt aufsuchende Impfangebote in sozial benachteiligten Stadtteilen. Abgerufen 20.05.2021, von https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/erlass-regelt-aufsuchende-impfangebote-sozial-benachteiligten-stadtteilen
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Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR). (2019). Jahresgutachten 2019. Bewegte Zeiten: Rückblick auf die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre. Abgerufen 27.03.2021, von https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2019/05/SVR_Jahresgutachten_2019.pdf
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Wahrendorf, M. / Knöchelmann, A. / von dem Knesebeck, O. / Vonneilich, N. / Bolte, G. / Lehmann, F. / Schmidt, M. J. / Butler, J. / Schmidt, F. / Böhm, C. / Lunau, T. / Dragano, N. (2020). Verschärfen COVID-19 Pandemie und Infektionsschutzmaßnahmen die gesundheitlichen Ungleichheiten? Kompetenznetz Public Health COVID-19. Abgerufen 04.05.2021, von https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/Hintergrundpapier_SozUngl_COVID19_final.pdf